Kunterbunter Hund

„Bunter, Buuhunter? Bleib schön hier!“

Schon eine ganze Weile hatte ich den alten Mann im Visier. Offensichtlich war er zu einem Spaziergang mit seinem Haustier aufgebrochen. Die kleinen Räder seines Rollators, den er vor sich hertrieb, ruckelten über das unebene Pflaster. Mit geschickten Stößen befreite er seine Gehhilfe wieder und wieder aus den Rissen und Fugen der renovierungsbedürftigen Pflasterung des Bürgersteigs, um seinen Weg mit flatternden Reifen fortzusetzen.

„Bunter, Buuuuuhunteerrr. Nun warte doch!“
Eigentlich war ich auf dem Weg in den Feierabend. Halb Zwölf! Um 23:50 könnte ich in der Zentrale sein und zehn Minuten später in meinem Polo unterwegs zu heimischen Gefilden.

Halb Zwölf. Nachts!

Der Senior tippelte gerade in eine Straße hinein, an deren Ende ein Schlachthof liegt.  Alle 15 Minuten fährt ein Laster dort hin oder zurück. Eine Todeszone, für bis zu 3500 Schweine täglich/ nächtlich! Ein Transporter biegt ein, hier und da lugt eine Schweinenase aus den Lichtschlitzen des Tiertransporters heraus und erschnüffelt die letzten Odoen eines Allesfresserlebens.
„Der alte Mann gehört hier nicht hin!“, sagte mir mein Gefühl und fährt fort: „Kümmere dich!“

„Was kann ich denn dafür, wenn so’n Oller um diese Zeit hier herum tapert!?, rief der Idiot auf meiner Schulter mir ins Ohr, „Sieh zu das wir nach Hause kommen, Columbo läuft gleich in der Glotze!“

Währenddessen verschwindet der Mann aus dem Lichtkegel der Kreuzungsbeleuchtung. Seine Hose sitzt auf „halb Acht“, das Unterhemd Ist hochgerutscht und gibt das Maurerdekolleté frei.

„Wer läuft sooooo rum, mitten in der Nacht?, flüstert mein Gefühl, „kümmere dich endlich!“

Ich setzte meine Fahrt fort, wendete alsdann in der nächsten Einfahrt und hielt schräg vor dem Rollatorhelden, kurbelte das Fenster herunter und erkundigte mich nach seinem Wohlergehen, als auch, ob er Hilfe benötige.

Er blickte mich schräg von unten – jedenfalls hatte er so einen steifen, krummen Rücken, der es ihm unmöglich machte sich aufzurichten – an, verneinte, rief abermals seinen Hund „Buuuunter?!“ und setzte seinen Weg fort, ohne mich weiter zu beachten.

Als eingefleischter Menschen- und auch Tierfreund schaute ich außerdem auch nach dem treuen Begleiter aus, konnte ihn aber nirgends entdecken, obwohl er sich eigentlich in unmittelbarer Nähe aufhalten müsste, denn er wurde wiederholt  von seinem Herrchen für sein folgsames Verhalten gelobt.

Ganz vorsichtig fasste ich den Schluß, das der Mann ausgebüchst seien muss, wollte mich aber nicht ohne Unterstützung in fremder Leute Leben einmischen. Ich machte mich schnell auf den Weg zu einem der vielen nahegelegenen Seniorenheimen, um meine Beobachtung zu melden und mein Gewissen zu beruhigen.

„Ich weiß was, ich weiß was!“

Aufgeregt wie ein Zweitklässler betätigte ich die Klingel am  Seniorengehäuse. Klar hatten die mehr zu tun, als auf einen Taxifahrer zu warten, aber es dauerte und dauerte, bis endlich die ersehnte Pflegekraft am Tor aufschlug und mich unentschlossen beäugte.

„Vermissen sie einen Insassen?!“ fragte ich schnell, bevor ich mein Anliegen nachher noch vergesse oder ich wortlos vom Hof gejagt werde.

„Nein, alle liege brav in ihren Kettchen und träumen von alten Zeiten!“

Zur Sicherheit lieferte ich eine perfekte Personenbeschreibung ab, welche die Dame dann doch noch veranlaßte die Schlafstätten auf vollständige Belegung hin zu überprüfen.

Ohne viele Worte wurde mein Anfangsverdachtsgefühl bestätigt. Im Laufschritt zog sich die perplexe Pflegekraft einen Pulli über, lief an mir vorbei zum Taxi und hielt mich an, uns zum Entlaufenen zu chauffieren.

Er sei mit krimineller Energie vorgegangen und habe einen unverschlossenen Ausgang im Frühstücksraum zur Desertation genutzt, welchen er von extra davor gestellten Blumentopfarangements in der Art befreit hatte, das ein guter Teil des Saales nun mit Pflanzgut und Muttererde bedeckt war.

Wir erreichten meine Ausgangsposition, die Schweinekreuzung. Die Ampel befand sich schon seit 21:00 im monotonen Blink-Modus. Das grelle gelbe Licht drang sogar bis in unseren Pausenraum unserer Taxidependence. Das nervt! Kraft Gesetzes bin ich gezwungen „Teddybär“ zu sagen, bevor ich die Fahrbahn überquere. Mein Fahrlehrer hatte gelehrt, am Stoppschild immer 3 Sekunden zu halten und für den Fall das keine anderen Verkehrsteilnehmer Wegerechte vor mir hätten, meine Fahrt fortzusetzen. „Ted-Die-Bär“ entspricht eben genau diesen 3 Sekunden, hatte er gemeint.

Zwölf Teddybären später erspähten wir unseren Delinquenten, noch immer mir wehenden Fahnen gen Schlachthof eiernt, etwa in Höhe der Hausnummer 8. Seine „Aufseherin“ verstellte wagemutig den Fluchtweg und ich lenkte ab, indem ich behauptete, sein  Hündchen sässe schon im Taxi und würde auf sein Herrchen warten.

„Buuuuuunter, wo biiieeest du?“

Ein Kläffen nachahmend verschwand ich unter den hinteren Sitzen meines Renault-Busses.

Ein weiteres Indiz für ein geplantes Fernbleiben von der Truppe offenbarte sich in der Wahl seiner Ausrüstung. Auf dem Sitzbrett des Rentnerporsches lag jetzt eine eingeschalte Taschenlampe und erhellte den Bürgersteig mittelmässig. Das er etwas länger unterwegs sein wollte bewies der weitere Inhalt einer im Tragekorb liegenden Jacke. In der linken Tasche befand sich ein Paar dicke Socken, aus der Rechten förderten wir zwei Unterhosen hervor, wovon eine schon benutzt, aber wohl gut und gerne noch einmal hätte getragen werden können. In der Innentasche fanden sich Bananenschalen *wtf*.

Mit etwas ruhiger Zusprache liess er sich überzeugen, mit uns gemeinsam zum Seniorenheim zurück zu kehren, um dort seine Lebenslange Strafe abzusitzen.

Eine weitere Pflegerin erwartete uns unaufgeregt und entsorgte den verwirrten, alten Mann aus meinem Wagen. Auf dem Weg zum Eingang hatte sie ihn eingehakt und drehte sich kurz zu um und rief mir zu:

„Leider habe ich gerade noch nicht einmal einen Euro für dich dabei!“

Etwas dümmlich kam ich mir dann doch wegen dieser Aussage vor. Als hätte ich mich nur wegen irgendeines Mini-Trinkgeldes um diese Angelegenheit geschert!? Ich rief ihr noch zu, sie möge meinem Chef eine Mail schreiben und ihm dafür danken, das wir sein Auto kostenlos benutzen durften. Sie nickte abwesend. Mein Chef weiß bis Heute nicht davon. Egal, ich habe sein Vertrauen, was die reguläre Nutzung seiner Fahrzeuge betrifft.

Milz sei Dank beruhigte ich mich unversehens und begab mich auf den verdienten Heimweg.

Essenz:

Ich freute mich einige Tage sehr, denn ich habe hingesehen und gehandelt, vielleicht sogar ein Leben dadurch gerettet, wenn auch ein ziemlich Verbrauchtes. Seid aufmerksam und gebt euren Gefühlen Raum zum handeln!